(M)ein Tag in der Bahnhofsmission: Menschen helfen, die sich aufs Abstellgleis geschoben fühlen

Foto: Anand Anders I Der Tisch ist gedeckt fürs Männerfrühstück. Helfer, Gäste und ein „Reporter im betrieb“ sitzen gemeinsam am Tisch, um über „Gott und die Welt“ zu reden, Gemeinschaft zu spüren und vielleicht auch mal wieder lachen zu können.

Reporter in Betrieb: Kaffee, Tee, warme Socken und Zeit für ein Gespräch. All dies gibt es in der Bahnhofsmission. Doch die Hilfe hat noch viele andere Gesichter.

„Wir sind Anlaufstation für Menschen, die in irgendeiner Form Hilfe brauchen.“ So skizziert Susanne Brand, seit zwölf Jahren bei der Schweinfurter Bahnhofsmission und seit zwei Jahren deren Leiterin, wie breit aufgestellt das Hilfs-Programm dieser Einrichtung ist. Was alles „irgendeine Form der Hilfe“ bedeuten kann, erfahre ich an diesem Montag, an dem ich Teil des Teams sein darf, das Menschen in Not mit allem versorgt, was hilft – von warmen Socken bis zum heißen Kaffee.

„Wir sind am Bahnhof, weil am Bahnhof alles aufschlägt“, so Susanne Brand. Die Bahnhofsmission vermittelt mobile Reisebegleitung, hilft beim Aus- und Umsteigen und steht Bahnkunden zur Seite, wenn sie Probleme mit den Automaten haben oder einfach nicht mehr weiter wissen. Alles Alltag für die Bahnhofsmission. Neben diesen praktischen Hilfen greift die Bahnhofsmission Tag für Tag Menschen unter die Arme, die jenseits der Sonnenseite des Lebens nicht auf den nächsten Zug warten, aber darauf, dass ihnen jemand etwa mit einer Sachspende über den Winter hilft. „Der Bedarf wird immer größer“, so Brands Fazit im Rückblick auf die krisengebeutelten Jahre.

Einmal im Monat an einem gedeckten Tisch niederlassen und sich bedienen lassen

Heute ist Männerfrühstück. Gute Gelegenheit für alleinlebende Männer wie Michael (66), Omar (46), Helmut (65) und Reinhold (70), wenigstens einmal im Monat gemeinsam mit anderen an einem gedeckten Tisch zu sitzen, reden zu können und sich bedienen zu lassen. Inzwischen sind Norbert Pache und Stefan Niedoba eingetroffen. Zwei von zehn freiwilligen Helferinnen und Helfern, ohne die solche Zusatzangebote wie das Männerfrühstück, das Stadtteil-Kaffee für Frauen oder die Adventsfeier kaum möglich wären, sagt Susanne Brand.

Würstchen werden heiß gemacht, Brot aufgeschnitten, Servietten gefaltet, Brezeln auf Tellern verteilt. Die Kaffeemaschine zeigt im Dauereinsatz, was sie drauf hat. Die Männer, zumeist Stammgäste, trudeln ein, freuen sich auf das gemeinsame Frühstück. Angebote wie diese, die Raum und Zeit bieten, sich auch die Sorgen und Nöte der Gäste anzuhören, seien nur möglich, weil der Schweinfurter Bahnhof ein kleiner mit weniger Umsteigeverkehr sei, so Brand. „Unser Schwerpunkt ist das Gespräch, wir haben viele Leute, die regelmäßig zu uns kommen, für die wir so etwas wie Familienersatz sind.“ Auf großen Bahnhöfen, wo Hilfe mitunter im Minutentakt gebraucht wird, sei das so nicht möglich.

Frühstücksgespräche unter Männern

Michael zeigt mir seine „neuen gebrauchten Schuhe“, die er anstelle seiner „sehr gebrauchten alten Schuhe“ schon vor dem Frühstück von Susanne Brand bekommen hat. Omar verrät mir schmunzelnd, dass er seinen Vornamen deshalb bekommen hat, weil seine Mutter den Schauspieler Omar Sharif bewundert hat. Viel wichtiger als die warme Wurst, mit oder ohne Senf, ist das Beisammensein, das Wissen darum, unweit der Gleise wenigstens für ein paar Stunden nicht aufs Abstellgleis des Lebens geschoben zu sein. In der warmen Stube tauen nicht nur die klammen Finger auf. Man kommt ins Reden über Themen von Bürokratie bis Bürgergeld, von der Aussicht auf einen neuen Job bis zur Sorge um den alten. Mensch unter Menschen sein können, so angenommen werden wie man ist, das ist die Nahrung für die Seele neben Speis und Trank. Und genau dies zu ermöglichen, ist Anspruch der Bahnhofsmission.

Die Stunde, die für das Männerfrühstück angesetzt ist, saust dahin. Auch das „ihr könnt noch ein wenig sitzenbleiben“, das Susanne Brand zugesichert hat, ist schnell vorbei. Die Männer machen sich wieder auf, irgendein Behördengang oder eine Nachfrage, ob es nun mit dem Job klappt oder nicht, steht für viele noch auf dem Tagesprogramm.

Während die anderen Helfer der Spülmaschine Arbeit verschaffen und klar Schiff im Frühstücksraum machen, steige ich mit Susanne Brand hinab in die Keller-Katakomben des Bahnhofs. Der künstliche Christbaum samt Deko für die Adventsfeier muss geholt werden. Im Keller ist vom Kindersitz fürs Auto bis zur Schlafsack-Sammlung alles Mögliche gelagert. Zumeist aus Spenden stammend, findet alles früher oder später jemand, der genau diese Sache jetzt braucht.

Bahnhofsmission seit 1926 in Scheinfurt

Um 12 Uhr ist „Wachwechsel“ in der Bahnhofsmission. Die evangelische Diakonie und „In Via“, der katholische Verband für Mädchen- und Frauenarbeit in Bayern, teilen sich paritätisch die Arbeit in der Bahnhofsmission. Susanne Brand, die für „In Via“ arbeitet, erzählt, wie das alles anfing mit der Bahnhofsmission. Die erste ihrer Art wurde 1894 in Berlin von Pfarrer Johannes Burckhardt am heutigen Ostbahnhof gegründet. Die Bahnhofsmission am Schweinfurter Bahnhof gibt es seit 1926.

Das Hilfsangebot richtete sich ursprünglich an Frauen und Mädchen, die im Zuge der Industrialisierung viel häufiger vom Land in die Stadt kamen und in der Bahnhofsmission einen Schutzraum und eine erste Anlaufstelle fanden, wenn sie beispielsweise in der fremden Stadt eine neue Arbeit suchten.

Auf der anderen Seite des Wachwechsels steht Elmar Rachle, der für die Diakonie arbeitet und die Nachmittagsschicht bis 16 Uhr übernehmen wird. Er hat selbst Erfahrung damit gemacht, wie es sich anfühlt, als Bezieher von Arbeitslosengeld 2 auf der Seite der Hilfeempfänger zu stehen. „Ich weiß, was in den Menschen vorgeht, ich habe das selbst erlebt, deshalb bin ich froh und glücklich mit dieser Aufgabe“, meint Rachle, während wir den Christbaum für die Adventsfeier aufstellen und schmücken.

Noch ein Kaffee und ein paar warme Socken vor dem Gang in die Klinik

Vor der Bahnhofsmission warten inzwischen schon weitere Gäste. Unter ihnen eine ältere Dame, die regelmäßig auf einen Kaffee vorbeikommt und einfach nur etwas reden will. Sie trauert den Zeiten nach, als der Mann noch lebte, die Kinder noch klein waren und am Küchentisch Hausaufgaben gemacht wurden. Ein junger Mann steht vor der Tür, erzählt, dass er am nächsten Tag zur Entgiftung in eine Klinik gehen will und fragt, ob wir neben einem Kaffee mit ganz viel Zucker auch ein Paar Socken für ihn hätten.

Ein anderer sucht einen Job, braucht dafür wenigstens ein paar Euro, um dort hinfahren zu können, wo es vielleicht einen gibt. Er zeigt uns seinen Geldbeutel mit den nackten Lederwänden, zwischen denen sich nicht einmal mehr der letzte Cent versteckt. Geld gibt es nicht bei der Bahnhofsmission, aber einen Elmar Rachle, der sich auskennt und sich für ihn ans Telefon klemmt und bei den Behörden anfragt, wie es mit einem Vorab-Abschlag ausschaut. Den gibt es nicht, aber vielleicht die Möglichkeit, ein Ticket für die Heimreise zu bekommen. Doch es kommen nicht nur Bittsteller, sondern auch Menschen – es ist Vorweihnachtszeit – die etwas für die Bahnhofsmission spenden wollen.

Kleine und etwas größere (Über)lebenshilfen, das ist es, was die Bahnhofsmission tagtäglich leistet und dabei immer im Blick hat, den Menschen, egal in welcher Situation, mit Achtung und Würde zu begegnen. Ich habe an diesem Tag für jeden Tee, jeden Kaffee, jede gereichte Scheibe Brot ein „Danke“ gehört. Wer Gutes tut, bekommt davon auch irgendwie etwas zurück. Diese Erkenntnis nehme ich mit, als um 16 Uhr die Bahnhofsmission, diese Insel der Hilfe, in den Feierabend geht.

Helmut Glauch

Erschienen im Schweinfurter Tagblatt am 22.12.2022

https://www.mainpost.de/regional/schweinfurt/mein-tag-in-der-bahnhofsmission-menschen-helfen-die-sich-aufs-abstellgleis-geschoben-fuehlen-art-10998013